Reflexion eines Zeitzeuginnengesprächs über die Verfolgung von RomNia und SintiZe
Da ich in letzter Zeit wenig Zeit, noch weniger Lust hatte, meinen Blog zu pflegen, möchte ich in nächster Zeit ein paar Dinge aus dem alten Jahr nachreichen.
Am 07.11.2018 luden Studierende der Goethe Universität und die Forschungsstelle NS-Pädagogik die Schwestern Frau Strauß und Frau Rose, beide Töchter von Eltern, die die deutsche Verfolgung in Konzentrations- und Vernichtungslagern überlebt hatten, zu einem Gespräch ein. Die Schwestern berichteten darüber, wie sich die Verfolgungsgeschichte ihrer Eltern auf ihr Leben im Nachkriegsdeutschland auswirkte und bis heute auswirkt. Die beeindruckende Darstellung der Lebensgeschichte ihrer Eltern und ihrer eigenen Verwobenheit in die Verletzungen, die die Deutschen ihren Eltern und den nachfolgenden Generationen zugefügt haben, müsste eigentlich viel breiter reflektiert werden. Leider kann ich, drei Monate später, nur noch die drei für mich prägenden Aussagen festhalten, die ich mir damals notiert habe und von denen ich denke, dass sie mitteilenswert sind.
Mir wurde durch die Schilderung der Kindheitserlebnisse in der unmittelbaren Nachkriegszeit bewusst, wie sehr die jahrzehntelange deutsche Weigerung, den Völkermord an den RomNia und SintiZe anzuerkennen, die individuelle psychische Verarbeitung der Opfer behinderte, wie sehr die kollektive Leugnung der Taten dazu führte, dass das Zur-Sprache-Bringen lediglich innerfamiliär geschehen und somit verarbeitet werden konnte. Eine der Schwestern erzählte davon, dass ihr Vater niemanden außer seine Töchter gehabt habe, dem er von den Erlebnissen im Konzentrationslager hätte erzählen können. Nachts, wenn ihr Papa mal wieder nicht schlafen konnte, habe er oftmals seine Töchter geweckt und Ihnen von den Erlebnissen im Lager erzählt, die ihn wieder und wieder verfolgt hätten. Wir erinnern uns: Deutsche Gerichte haben in den Nachkriegsjahrzehnten geleugnet, dass es eine rassische Verfolgung von SintiZe und RomNia gegeben hätte, eine Entschädigung für das Leid oder eine Anerkennung der Vernichtung fand in der BRD lange nicht statt. Natürlich hätte auch ein offener Umgang mit diesem Thema das Leid nicht ungeschehen gemacht. Aber kollektive Artikulationsmöglichkeiten und eine Aufarbeitung der Verfolgungsgeschichte führen stets auch zur Gelegenheit einer individuellen Artikulation und Verarbeitung der eigenen Verfolgungsgeschichte. Indem die Deutschen bis in die 80er Jahre hinein diese systematische Verfolgung leugneten waren boten die Familien die einzige Möglichkeit, dass die Verfolgung der SintiZe zur Sprache kommen konnte und in denen Bewältigungsversuche passieren konnten. Inklusive aller negativer Folgen für die nachfolgenden Generationen, von denen Frau Strauß und Frau Rose berichteten.
Zweitens blieb mir ein bemerkenswerter Satz in Erinnerung: „Der Holocaust hat für mich nie aufgehört“. Ich bin mir nicht mehr ganz sicher, ob ich mir diesen Satz als Sinnzusammenhang oder wörtliches Zitat aufgeschrieben habe. Erläutert wurde diese Schlussfolgerung so: Frau Rose schilderte, dass ihre Eltern aufgrund ihrer Verfolgung stets eine aus der Sicht der Töchter übertriebene Sorge um ihre Kinder hatten, besonders wenn diese alleine unterwegs waren. Diese unverhältnismäßige Angst vor einem plötzlichen Verschwinden der Kinder wirkte sich aus Sicht von Frau Rose jedoch auch auf ihre eigene Kindererziehung aus: Ihre Kinder machten sich über sie lustig, wie sie diesen zum Beispiel stets aus dem Fenster der Familienwohnung hinterherschaute wenn sie das Haus verlassen haben, so als wollte Frau Rose sicherzustellen, dass ihren Kindern auch wirklich nichts zustoße auf dem Weg in die Schule. Natürlich wurde über die transgenerationale Weitergabe von Traumata schon vieles geschrieben, und dennoch wird ja die Zahl derer nicht kleiner – gerade heute – die sich dem Motto „irgendwann muss doch mal Schluss sein“ verschrieben haben. Natürlich ist das stets ein Spruch für komplette Idioten gewesen, denn jeder Mensch ist genauso verwoben in die Nachwirkungen der Geschichte und in die kollektiven Erfahrungen und Traumata, egal ob er davon etwas wissen will oder auch nicht. Man verhält sich immer zur Geschichte, denn nichts in der Welt ist ohne diese. Kommen wir wieder zum eigentlichen Satz zurück: „Der Holocaust hat nie aufgehört“. Auch in der Sozialarbeit mit wohnungslosen RomNia erlebe ich immer wieder Situationen, die nach meiner Meinung ohne die Nachwirkungen der Verfolgung nicht zu verstehen sind. So machten mehrere meiner KollegInnen die Erfahrung, dass viele RomNia eine ungleich größere Angst vor medizinischen Untersuchungen haben als Mehrheitsdeutsche, und dass vor allem die Angst vor der Untersuchung von Kindern sehr groß ist. Ich glaube, dass diese Angst nicht ohne die Geschichte der „rassebiologischen“ Ausforschung und ohne die Politik der Nazis und ihrer europäischen Bündnispartner, die Kinder von ihren Eltern trennten, zu verstehen ist. Ich glaube es gibt viele bemerkenswerte Situationen zwischen Mehrheitsdeutschen und deutschen oder nicht-deutschen RomNia oder SintiZe, deren Dynamik und deren manchmal merkwürdige Übertragungen und Gegenübertragungen sich erst entschlüsseln lassen, wenn man die Nachwirkungen der Vernichtung berücksichtigt. Denn im kollektiven Gedächtnis hat sie tatsächlich niemals aufgehört.
Drittens und Letztens: Eine der Schwestern sagte einen Satz, der erst einmal selbstverständlich klingt: „Wir sind ganz normale Menschen“.* So wie jeder andere Mensch auch, Menschen die genauso empfinden wie der Rest der Menschheit. Wer könnte die Wahrheit dieses Satzes auch anzweifeln? Das Traurige ist, dass ich voll und ganz verstehen kann, wenn sich Frau Rose oder Frau Strauß genötigt fühlen, das Publikum von der Wahrheit dieses Satzes zu überzeugen. Ich habe in der Wohnungslosenhilfe erlebt und auf diesem Blog immer wieder dargestellt, das BürgerInnen ihren Müll auf obdachlose RomNia schmeißen, dass JournalistInnen und PolizistInnen RomNia als pars pro toto für Delinquenz darstellen und städtische Bedienstete das Leben in Schmutz zum kultuellen Wesen der RomNia zählen. Leider glaube ich, dass man vom Satz „Wie sind ganz normale Menschen“ noch sehr viele Leute überzeugen müsste.
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*Auch hier bin ich mir nicht ganz sicher, ob ich mir diesen Satz als Sinnzusammenhang oder wörtliches Zitat aufgeschrieben habe.